Ganzheitliche Pferdegymnastizierung

Stefan Stammer:

Das Pferd in positiver Spannung – Biomechanik und Reitlehre in Bewegung

 

Inhalt:

Dieses Buch thematisiert die Entwicklung der positiven Körperspannung des Reitpferdes durch eine zielgerichtete Ausbildung, um es lebenslang leistungsfähig und gesund zu erhalten.

 

Aufbau:

Der Einstieg in die Thematik des Buches erfolgt mittels einiger kritischer Anmerkungen des Autors über die Entwicklung des Reitsportes in den letzten Jahren/Jahrzehnten. Dabei führt er vor allem an, dass die Erkenntnisse der Biomechanik und funktionellen Anatomie viel zu wenig in die Ausbildung des (Freizeit-)Pferdes mit einfließen bzw. diese beeinflussen.

Aus diesem Grund widmet Stefan Stammer diesen Erkenntnissen fast die Hälfte seiner Buchseiten. Er beschreibt mit außerordentlich gut veranschaulichenden Skizzen und Abbildungen die Funktionsweise der Kraftübertragung des Pferdes. Diese wird aber erst durch die Entwicklung einer positiven Körperspannung ermöglicht, welche wiederum nur positiv entwickelt werden kann, wenn das vordere und hintere Bewegungszentrum des Pferdes optimal zueinander positioniert sind.

Wie diese Position auszusehen hat und welche Probleme dabei auftreten können, erläutert Stammer sehr anschaulich und gut verständlich. Dabei bezieht der Autor neben der Fortbewegung auf der Geraden ebenso die auf der Kreislinie und ihre spezifischen Anforderungen mit ein.

Das vierte Kapitel befasst sich mit der Umsetzung der zuvor theoretisch erörterten Entwicklung der positiven Spannung eines Pferdes im Rahmen der klassischen Ausbildungsskala. Anschließend wird die Ausbildung im Hinblick auf die unterschiedliche Nutzung (Springpferd, Freizeitpferd usw.) des Pferdes sowie die verschiedenen Exterieurtypen beschrieben.

In den nächsten beiden Kapiteln geht Stammer kurz auf die Wichtigkeit des korrekten Reitersitzes sowie die Möglichkeiten des Trainings oder der Therapie und Rehabilitation gesunder oder bereits erkrankter Pferde ein. Das Buch wird durch vielfältige knappe Ausführungen über eine artgerechte Haltung am Beispiel des französischen Systems von „Les Dannes“ abgeschlossen.

 

Persönliche Meinung:

Für mich ist das Buch eine große Bereicherung, was die vielen Ausführungen über die Biomechanik sowie funktionelle Anatomie des Pferdes angeht. Stefan Stammer schafft es, komplexe Zusammenhänge vor allem anhand der sehr guten Abbildungen zu erklären und dem Leser verständlich zu machen. Er greift dabei sicherlich schon Bekanntes auf, vertieft und erweitert die Grundgedanken und Konzepte aber immer wieder.

Zudem ist die Auseinandersetzung mit der positiven Körperspannung des Pferdes meines Wissen nach noch nicht so umfangreich (bis gar nicht) auf das vordere Bewegungszentrum eingegangen. Viel zu oft wird in der Literatur ebenso wie in der Praxis der Fokus allein auf die Hinterhand und ihre scheinbare Aktivierung gelegt. Dabei ist meiner Meinung nach in der Ausbildung ebenso unabdingbar auch oder sogar zuerst auf die „Steuerung“ des Pferdes – das vordere Bewegungszentrum – einzugehen. Nur, wenn der Brustkorb aktiv gegen die Schwerkraft nach oben zwischen den Schulterblättern angehoben werden kann, ist es dem Pferd möglich, die Energie der Hinterhand ungestört und gesunderhaltend durch den Pferdekörper fließen zu lassen.

Die Darstellung der unterschiedlichen Positionierungen der Bewegungszentren zueinander und der dadurch entstehenden Mechanismen zur Stabilisierung gegen die Schwerkraft verdeutlichen sehr gut den elementaren Entwicklungsschritt von einem Fluchttier zu einem Reitpferd.

Die genaue Beschreibung der Anforderungen der Kreislinie an das Pferd und die Einflussnahme auf dessen Körper sind sehr interessant. Natürlich handelt es sich um ein Lebewesen, dass individuell betrachtet werden muss. Aber selten war es so interessant, sich mit Hebelgesetzen und der Zentrifugalkraft zu beschäftigen wie hier. Viel bewusster wird dem Leser, wie hohen Belastungen das Pferd auf der Kreislinie ausgesetzt wird (ca. 900kg z.B. auf den äußeren Schultergürtel) und wie viel Kraft es deswegen benötigt, um korrekt auf der Kreislinie zu gehen. Die Ausbildung dieser Reitpferdemuskulatur kann deswegen nur über einen langen Zeitraum hinweg kontrolliert und durchdacht erfolgen. Zudem kann sie nur dann erfolgen, wenn das Tier artgerecht aufgezogen und gehalten wird. Das letzte Kapitel des Buches ist deswegen auch sehr wertvoll!

Leider sind die Beschreibungen wie die Entwicklung der positiven Körperspannung mittels der Ausrichtung an der Skala der Ausbildung stattfinden soll ernüchternd. Bekanntes wird zum Teil Floskelhaft aufgeführt und wenig in den Kontext der vorigen Kapitel eingebunden. Konkrete Vorgehensweisen oder Lösungsmöglichkeiten bei auftretenden Problemen sind kaum vorhanden.

Ein sehr großer Minuspunkt geht an die Fotografien des Buches. Sie zeigen fast ausnahmslos Pferde, welche hinter der Senkrechten geritten werden oder deren Parallelität im Trab oder der Piaffe gebrochen ist. Wie können solche Bilder als positive Beispiele abgedruckt werden, wenn sie zumeist genau das abbilden, was im Text als negativ gekennzeichnet wurde? Wirklich schade!

 

Insgesamt ist es trotzdem ein Buch, was für alle Leser empfehlenswert ist, die sich etwas wissenschaftlicher mit der Materie auseinandersetzen wollen und Interesse daran haben, das Bewegungssystem des Pferdes auch mal mit Hilfe mathematischer und physikalischer Erkenntnisse erklärt zu bekommen.

 

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